Kalenderwoche 51/2021
Nastjas Tränen
Von Natascha Wodin
Es ist mein erstes Buch, dass ich von Natascha Wodin gelesen habe. Ihre Bücher handeln stets um Entwurzlung, Fremdheit, Diskriminierung und beschäftigen sich mit Erlebnissen aus ihrem Leben. Ihre Kindheitserfahrungen in deutschen Zwangslagern und auch der frühe Freitod ihrer Mutter und schliesslich die Gewalttätigkeit ihres Vaters sind verständlicherweise immer spürbar in ihren Geschichten.
Auch in diesem Buch schreibt sie über ihre persönlichen Erfahrungen. Hauptperson dabei ist Nastja, mit der sie im Laufe der Zeit eine Freundschaft verbindet. Als Natascha Wodin 1992 nach Berlin kommt, sucht sie eine Putzfrau für ihre Wohnung. Ihre Wahl fällt schliesslich auf eine Frau aus der Ukraine, die aus demselben Land kommt wie ihre verstorbene Mutter. Nastja, gelernte Tiefbauingenieurin, konnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im damalig herrschenden Wirtschaftschaos schlicht und einfach nicht mehr überleben. Sie kann sich und ihren von ihrer Tochter zurückgelassenen Enkel nicht mehr ernähren. Als sich die klitzekleine Chance ergibt im nahegelegenen und doch so weit entfernten Deutschland eine befristete Arbeitsstelle zu ergattern, greift sie zu. Sie lässt ihren Enkel bei ihrem Ex-Mann zurück und reist im Zug von Kiew nach Berlin. Das Geld hat sie sich von unzähligen Freunden ausgeliehen. In Berlin kann sie in erster Zeit bei ihrer Schwester wohnen, die jung schon in den Westen geflüchtet ist und einen Deutschen geheiratet hat.
Das Auf und Ab, dass die Ukrainerin dann in Deutschland erlebt, beschreibt die Schriftstellerin sehr eindrücklich und brutal ehrlich. Es kommt die Zeit, wo sich Nastja gegenüber Natascha, ihrer Arbeitgeberin, vorsichtig und peu à peu öffnet und sich schlussendlich auch traut, Hilfe von den Ausländern, den «Deutschen» anzunehmen.
Diese wahre Geschichte ist sehr bewegend, bedient sich dabei eher einer nüchternen, sachlichen Sprache. Man lernt viel über die damalige Zeit und über das Leben, die Sorgen und Nöte von Emigranten kennen. Dabei findet Natascha Wodin immer wieder Parallelen zu ihrem Leben und dem Leben ihrer Eltern.
Nicole Kast
am 20. Dezember 2021










